Schnittmuster und Typen

Nach den Materialien und der groben Bauweise braucht es für die Rekonstruktion der Rüstung auch ein konkretes Schnittmuster. Mit dem Fehlen eines erhaltenen Leinenpanzers oder einer detaillierten schriftlichen Quelle zum Aufbau dieser in der Literatur im Gegensatz zu den griechischen Metallpanzern der Typen I-III als Typ IV bezeichneten Rüstung bleiben uns dazu nur die Vielzahl künstlerischer Darstellungen. Von diesen sind laut Gregory Aldrete insgesamt 913 erhalten, mehr als die Hälfte davon auf rotfiguriger Keramik. Diese Fülle an Quellen bringt jedoch mehrere Probleme mit sich.

Die unter „Bauweise“ erwähnten Grundelemente, das U-förmige Trägerteil, das um den Oberkörper gelegte Schutzelement und die Pteryges, lassen sich auf nahezu allen Darstellungen wiederfinden. Eine stichprobenartige Betrachtung erhaltener Keramik offenbart jedoch deutliche Unterschiede sowohl in kleineren Details an der Rüstung als auch im groben Aufbau des Schutzelementes.

Tyszkiewicz-Maler, 

Athen um 490-480

Museum of Fine Arts Boston

 

Achilleus Maler, 

Athen, Mitte 5. Jh.

Vatikanische Museen, Rom

attisch, 5. Jh.

British Museum London

attisch, 490-480, Boston Museum of Fine Arts


Erstere beinhalten unter anderem die Anzahl hintereinander befestigter Pteryges, welche von einer bis drei Reihen reicht, die Form und Art der Befestigung der Trägerteile mit einem oder zwei Befestigungspunkten sowie deren unterschiedlichen Anordnungen. Weniger deutlich erkennbar sind Unterschiede im Aufbau der Rüstung. So lassen sich Linienführung und Proportionen auf erhaltenen Abbildungen des Typ IV Panzers als unterschiedliche Konstruktionsarten interpretieren und sich in mindestens vier Typen einteilen: Den einteiligen Aufbau mit dem Verschluss hinten oder auf der Seite (1.v.l.), den mehrteiligen Aufbau mit den Seitenteilen unter der Frontplatte (2.v.l.), den mehrteiligen Aufbau mit den Seitenteilen über der Frontplatte (2.v.r.) und schließlich den ein- oder mehrteiligen Aufbau mit Frontverschluss (1.v.r.).

Diese verschiedenen Darstellungs- beziehungsweise Produktionsarten des Linothorax lassen sich sowohl durch die künstlerische Freiheit der Maler als auch die sehr breite zeitliche Streuung der Quellen erklären. Erstere macht die Rekonstruktion des Schnittmusters zur besonderen Herausforderung, da kleinere Details aus teilweise sehr einfachen Darstellungen zu ziehen sind. Der Abgleich mit anderen abgebildeten Gegenständen, die als archäologische Funde vorliegen, kann die Interpretation unterstützen. Entsprechen den Abbildungen in Proportion und Aufbau sowie den erhaltenen Vergleichsgegenständen liegt nahe, dass auch der dargestellte Panzer naturgetreu und nicht stilisiert dargestellt ist.

Die Möglichkeit, dass es verschiedene Unterarten des Typ IV Panzers gab und eine weitergehende Typisierung notwendig ist sowie dass einige der möglichen Unterarten lokal oder temporär verbreiteter waren als andere ließe sich nur durch eine umfängliche Studie der 913 erhaltenen Darstellungen bestätigen oder widerlegen. Auch die Frage, ob eine Form insgesamt am häufigsten auftrat setzt eine solche Betrachtung voraus und lässt sich nicht nur durch Betrachtung der meistpublizierten Darstellungen beantworten.

Für die Erstellung des hier vorgestellten Schnittmusters haben wir uns daher für die Interpretation einer einzelnen Quelle bzw. eines einzelnen Malers entschieden. Zwar besteht so das Risiko, künstlerische Besonderheiten zu übernehmen, das Ergebnis - in diesem Fall ein Linothorax im Stil des Achilleus-Malers - ist jedoch deutlich konkreter als ein weder räumlich noch zeitlich klar eingegrenzter generischer Linothorax.

 

Die Quelle

Als Grundlage zur Rekonstruktion bietet der Achilleus-Maler zwei detaillierte Darstellungen, auf denen ein Typ IV Panzer komplett abgebildet ist: links seine Namenvase, eines Achilleus, CVA 213821 (Abb. I), sowie rechts die Darstellung der Abschiedsszene eines Hopliten, CVA 213882 (Abb. II). Im Folgenden sind nur die Panzer in Umzeichnung wiedergegeben.


Einige Elemente sind deutlich erkennbar und hervorzuheben:

  • Die Träger sind eckig geschnitten, mit einem achtzackigen Stern verziert und umrandet. Unter dem rechten Arm steht das Trägerteil auf beiden Abbildungen etwa auf Höhe der Schulterblätter seitlich heraus. Aufgrund der tieferen Befestigung sind die Träger bei Abb. II länger. Bei Abb. I steht zwischen den Trägern ein Stück des Trägerteils eng am Nacken anliegend hoch.
  • Die Frontplatte ist ebenfalls mit einem Rand versehen und reicht etwa vom Schlüsselbein bis zur Taille. Sie ist mit einer waagerecht verlaufenden Borte verziert und auf Brusthöhe breiter geschnitten als an der Taille. Die Borte sitzt bei Abb. II merklich tiefer als bei Abb. I, weiterhin werden beide Träger hier an einem bzw. zwei Kontaktpunkten befestigt. Die Frontplatte bei Abb.I schließt oben und unten mit abgerundeten Schuppen ab.
  • Die Seitenteile reichen von der Taille bis unter die Achseln und sind auf der Oberseite abgerundet ausgeschnitten. Sie schließen entweder mit der Frontplatte ab oder werden von dieser überlappt. Im Falle Abb.I  sind die Seiten zusätzlich mit Schuppen versehen und auf der linken Seite ist eine Schnürung erkennbar. Bei Abb. II ist kein Verschluss zwischen Seitenteilen und Frontplatte zu sehen.
  • Die Pteryges stehen unter dem unteren Rand der Rüstung leicht ab. Sie reichen von der Taille bis zur Leiste, lassen diese jedoch großteils frei. Bei Abb. I sind die Pteryges zweireihig und versetzt, bei Abb. II entweder einreihig und an der Unterseite verziert oder dreireihig und direkt übereinander befestigt.

 

Auffallend sind dabei der kurze Schnitt des Panzers sowie die Trapezform der Frontplatte. Der kurze Schnitt erscheint konterintuitiv: Lediglich der Brustkorb und die obere Hälfte des Bauchraums werden durch den eigentlichen Panzer geschützt, der Unterleib nur durch die Pteryges, während die Leistengegend und die Oberschenkel ungeschützt bleiben. Gerade diese Körperregionen sind als Sitz der Femoralaterie und als große Blutungsräume sehr gefährdet. Die auch bei anderen Malern dennoch sehr kurze Darstellung der Panzer kann dabei mit der idealisierten Nacktheit in der griechischen Kunst erklärt werden. Mag dieser Erklärungsansatz jedoch für Abbildung wie Abb. I gelten, bei denen der Genitalbereich des Achilleus sichtbar ist, zeigt auch Abb. II einen sehr kurzen Schnitt ohne jedoch Teile des Trägers durch ein ungewöhnlich durchsichtiges Untergewand zu entblößen.

Eine Erklärung für den kurzen Schnitt kann die Form der Frontplatte geben. Bei beiden Beispielen des Achilleus-Malers ist diese an der Unterkante schmaler als an der Oberseite. Die dadurch entstehende Trapezform findet sich auch bei dem unter „Fragmente“ erwähnten Metallpanzer aus einem makedonischen Königsgrab. Gemeinsam mit geraden Seitenplatten ergibt sich in dieser Formgebung ein deutlich körperbetonenderer Schnitt. Brust- und Taillenumfang können auch bei geraden Seitenplatten variiert werden und die Rüstung dadurch deutlich enger anliegen. Der entstehende trichterförmige Aufbau lässt sich auch auf vielen anderen zeitgenössischen Darstellungen erkennen und erklärt die Kürze der Rüstung.

 


 

In dieser körperbetonten Formgebung konnte diese nicht über die Taille hinausreichen, ohne den Tragekomfort und die Bewegungsfreiheit elementar einzuschränken.

Weiterhin muss betont werden, dass mit dem Hals und den Achseln auch weitere verwundbare Teile des Oberkörpers ungeschützt bleiben. Es handelt sich hierbei um Körperpartien, die sich nur sehr begrenzt schützen lassen, ohne die Bewegungsfreiheit und damit sowohl Überlebensfähigkeit als auch den Komfort des Trägers merklich einzuschränken. Dabei lässt sich eine Reihe anderer historischer Rüstungen finden, die im Gegensatz zu schlechten neuzeitlicher Reproduktionen auf gleicher Höhe enden. So reichen auch die Hauptelemente der Brustpanzer mittelalterlicher und frühneuzeitlicher europäischer und japanischer Rüstungen häufig nur bis etwa auf Höhe des Bauchnabels beziehungsweise auf Höhe der natürlichen Taille, um die Bewegungsfreiheit des Oberkörpers zu erhalten. Tiefer reichende Schutzelemente sind ähnlich den Pteryges flexibel am Hauptelement angebracht.

 

Das Schnittmuster

Auf dem Papier ergibt sich folgendes Schnittmuster für den Typ IV nach dem Achilleus-Maler:

A = Breite des Brustkorbs zwischen den Armen.

B = (Brustumfang-2*A)/2

C = (Taillenunfang-2c)/2

D = Abstand zwischen der Taille und der Achselhöhle.

E = Abstand zwischen Taille und Schlüsselbein-D

 

Auf den Vasen des Achilleus-Malers ist nicht eindeutig zu erkennen, ob das Schutzelement, also der eigentliche Brustpanzer, aus separaten Bauteilen besteht oder ob das gesamte Schutzelement einteilig ist und lediglich aus ästhetischen Gründen durch die senkrecht verlaufenden „Trennlinien“ unterteilt wurde. Neben Materialersparnis haben bisherige Versuche jedoch gezeigt, dass insbesondere bei steigender Anzahl von Leinenschichten große Flächen schwerer zu verarbeiten und zu trocknen sind. Daher gehen wir bei dieser Bauweise davon aus, dass mit dem Träger insgesamt fünf Bauteile den fertigen Panzer bildeten. Es bleibt jedoch unklar, wie diese Einzelteile miteinander verbunden wurden, das heißt ob die Seitenteile unter die Vorder-und Rückplatte gelegt und diese miteinander vernäht wurden oder ob die Platten bündig miteinander abschlossen und durch ein „Scharnier“ in Form eines Leder oder Stoffstreifens verbunden wurden. Auf das Material Leinen übersetzt würde dies der Bauweise des Metallpanzers aus dem sogenannten Phillipsgrab entsprechen, bei dem die einzelnen Metallplatten mit Scharnieren verbunden wurden. Dieser Unterschied im Aufbau lässt sich durch die Anfertigung zweier Versuchsmodelle im ungefähren Maßstab 1/6 (links A, rechts B) visualisieren.

 


 

Versuchsmodell A lässt vermuten, dass die Verbindung der Platten mit Hilfe eines auf der Rückseite angenähten Stoffstückes nur bedingt funktioniert. Das Fehlen eines Scharniers sowie die höhere Materialdicke führen zu einem im Gegensatz zum erhaltenen Metallpanzer sichtbaren Spalt zwischen den Platten. Dieser weicht in seinem unansehnlichen Erscheinungsbild nicht nur von den Quellen ab, sondern ist auch als absolute strukturelle Schwachstelle zu sehen. Der in Versuchsmodell B gewählte Ansatz der aufeinander genähten Platten kommt nicht zuletzt dem Aussehen von Abb.II deutlich näher und verhindert das Entstehen einer Schwachstelle. Zusätzlich ist hier entsprechend des Schnittmusters und des Panzers aus dem Phillipsgrab die Rückenplatte nicht höher als die Seitenplatten. Das Trägerteil liegt dadurch deutlich enger am Rücken an und es wird weiteres Material eingespart.

Während die Frontplatte  fast uneingeschränkt verstärkt und versteift werden kann, müssen die Seiten jedoch relativ flexibel sein. Es ist möglich, dass dies die Schuppen auf Abb. I erklären kann, die auch bei dünnen und flexiblen Seitenteilen einen hohen Panzerschutz hätten gewährleisten können. Hier ist sogar möglich dass, im Gegensatz zu verklebten Front- und Rückenplatten sowie Trägern, die Seitenteile aus vernähten Leinenteilen bestanden, welche die Befestigung der Schuppen deutlich einfacher gestaltet hätten.

Ein letztes Problem ergibt die Befestigung der Pteryges. Deren Oberkante ist nicht zu erkennen, wohl aber ein auf beiden Abbildungen durchgehendes Band zwischen der Unterkante des Panzers und Oberkante der den Pteryges. Dies kann eine Umrandung des Panzers und auf der Innenseite direkt an den Panzer angenähte Pteryges bedeuten. Abhängig von Materialdicke und Flexibilität scheint dies jedoch eine sehr unbequeme Lösung zu sein, zudem die gleichmäßige Befestigungen zweier als Schutz ausreichend stabiler Reihen Pteryges an den Panzer eine nicht zu unterschätzende handwerkliche Herausforderung darstellt. Zumindest bei zwei überlappenden Reihen von Pteryges ist auch das direkte Einschneiden in das Material der Schutzplatten unwahrscheinlich.

Möglich bleibt, dass die Pteryges in Form eines Gürtels separat unter dem Panzer getragen wurden und damit ähnlich getrennter Panzerplatten mittelalterlicher Panzer agierten oder dass sie an einem Leder-/Stoffriemen vernäht wurden, der dann wiederum am Brustpanzer befestigt wurde. Dies könnte als Ursprung späterer römischer Militärgürtel gesehen werden. Da die Pteryges auf Abb.1 und 2. jedoch fest mit der Rüstung verbunden zu sein scheinen haben wir uns für das finale Versuchsmodell III im Maßstab 1/1 daher für zwei Reihen auf einem wiederum mit dem Panzer vernähten Streifen befestigter Pteryges entschieden.

 


 

Obgleich Pappe als Material den verklebten Leinenschichten nicht genau entspricht zeigt dieses Versuchsmuster dass das zugrundeliegende Schnittmuster auch mit einem steifen und nur in eine Richtung biegbaren Material umsetzbar ist. Es bietet, obwohl körpernah gebaut, hohe Bewegungsfreiheit ohne das Material über die Biegung in eine Richtung hinaus zu verformen und lässt sich mit relativ wenigen -  bei verklebten Leinen aufwendigen - Nähten umsetzen. Zuletzt ergaben erste Trageversuche auch einen möglichen Zweck für das am Nacken hochstehende Stück des Trägerteils: ähnlich einer einfachen Bördelung bei Metall verhindert es, dass bei dieser eng anliegenden Bauweise die im Falle verklebten Leinens sehr harte Kante des Trägerteils dem Träger der Rüstung dauerhaft in den Nacken drückt.

 

 

Überraschend sind die fast zentimetergenau gleichen Dimensionen zu einer ebenfalls auf den Träger angepassten modernen Schutzweste. Ähnlich der bereits erwähnten mittelalterlichen europäischen und japanischen Rüstungen endet diese auf Höhe der Taille. Sie bietet damit im Vergleich zu Vorgängermodellen aus den 1990er und 2000er Jahren deutlich höhere Bewegungsfreiheit und einen deutlich höheren Tragekomfort bei leicht eingeschränkter Schutzwirkung. Über mehrere Jahrhunderte hinweg lässt sich damit ein Trend ähnlicher Dimensionen für Rüstungen feststellen, der die auf Vasen dargestellten kurzen und körperbetonenden Typ IV Panzer erklären kann. 

 

(Alle Bilder bis auf die der japanischen und der europäischen mittelalterlichen Rüstung Copyright Till Kasperidus 2020, die beiden erwähnten: Andrej Pfeiffer-Perkuhn/Geschichtsfenster. Mit freundlicher Unterstützung.)

 

T. K.