alternative Konstruktionen

Auf den ersten Blick scheint die Frage nach dem Material, aus dem der Linothorax bestand eine offensichtliche Antwort zu haben: Leinen. Auf den zweiten Blick offenbaren sich jedoch verschiedene Möglichkeiten, Flachsfasern zu Rüstungen zu verarbeiten. Unsere bisherigen Versuche konzentrierten sich dabei auf die Option, zugeschnittene Stoffstücke mit Hasen- oder Stärkeleim miteinander zu verkleben. Dieses Verfahren wurde erstmals in den 1970er Jahren durch den britischen Experimentalarchäologen Peter Connolly versucht und war ebenfalls im Fokus der Arbeit der amerikanischen Arbeitsgruppe um Gregory Aldrete. Zwar fehlen zeitgenössische Quellen, welche diese Bauweise beschreiben, doch Beispiele wie Theatermasken und das bekleben von Holzschilden mit teilweise mehreren Stofflagen belegen, dass das Konzept verklebten Leinens im antiken Griechenland existierte. Unsere Rekonstruktionsversuche zeigen zusätzlich, dass sich einige Merkmale des Linothorax auf diese Weise sehr genau rekonstruieren lassen. Unter anderem stehen derart verklebte Epomides (Schultern) beim Anlegen der Rüstung senkrecht nach oben.

 

Die Schultern (Epomides) einer Rüstung stehen beim Anlegen nach oben, was von einer gewissen Steifheit des Materials zeugt. Umzeichnung.

Mit Stärkeleim verklebte Schultern weisen die nötige Flexibilität auf, um auf die Brust gebogen zu werden, doch stehen um Ruhezustand aufrecht.


 

Verklebtes Leinen ist jedoch nicht die einzige Option. In unterschiedlichsten Kulturen sind auch Polsterungen oder Panzer zu finden, deren Stofflagen versteppte bzw. eng vernäht wurden. Auf den uns bekannten Darstellungen fehlen aber charakteristische senkrecht oder rautenförmig verlaufende Linien, die auf Steppnähte hinweisen können. Wir haben dennoch zwei Möglichkeiten erprobt, versteppte Rüstungen mit Nähten zu reproduzieren, die auf Vasenabbildungen nicht zu sehen gewesen wären. In unserem ersten im Blog dokumentierten Versuch nähten wir eine zusätzliche, nicht versteppte Stofflage über den relativ grob versteppten Panzer. Anschließend erprobten wir Steppnähte mit einem Abstand von etwa einem Zentimeter Stichabstand. Das Resultat war nicht nur ein derart kleines Nahtmuster, dass eine Darstellung auf Vasen kaum denkbar gewesen wäre. Auch die Materialeigenschaften des Stoffes änderten sich merklich. Die erreichte Versteifung des Stoffes könnte erstens nicht nur zu einer erhöhten Schutzwirkung geführt haben, zweitens lässt sich bei ausreichend vielschichtigen und eng versteppten Nähten auch das aufrecht Stehen der Epomides erreichen.

 

 

Aufnahme der versteppten Oberfläche während des Arbeitsprozesses.

Vollständig mit eng nebeneinander versteppten Nähten versehene Schultern (Epomides).


 

Eine dritte Alternative ist eine Bauweise, die nicht auf dem verbinden mehrerer gewebter Leinenschichten durch Leim oder Nähte basiert. Es wurden in Masada Leinenfragmente aus dem 1. Jh. n. Chr. gefunden (1), welche als Reste von Pteryges einer römischen Rüstung interpretiert werden. Diese bestehen nicht aus regulär gewebten Stofflagen, sondern wurden aus vergleichsweise dicken Fäden geknüpft, wobei die Schussfäden um die Kettfäden geführt wurden. Das Ergebnis ist ein recht dicker, steifer und dichter Stoff, welcher überraschend hohe Schutzwirkung bietet. Zwar gibt es keine eindeutigen Beweise für diese Bauweise im antiken Griechenland, doch insbesondere im Bezug auf die Pteryges lassen sich durch diese geknüpfte Machart einige Materialeigenschaften erklären. So sind auf vielen Darstellungen am unteren Rand der Pteryges Fransen zu erkennen. Ausgehend von einem Panzer aus geknüpftem Material lassen sich diese mit nach der Fertigung überstehenden Kettfäden erklären.

 

 

Originalfragment aus Masada aus geknüpften, dicken Leinenfäden. Aus: Granger Taylor 2012, Fig. 6.1.

Nach dem Muster von Masada geknüpfter bzw. verwobener Stoff aus Leinen.


Alexander im Leinenpanzer. Die Fransen an den Enden der Pteryges an Armen und Unterleib sind deutlich erkennbar (rot eingekreist). Detail aus dem sog. Alexandermosaik in Pompeji. Nationalmuseum Neapel.

 

Zwei kurze Beschreibungen von Leinenpanzern in antiken Quellen lassen sich mit dieser Bauweise erklären. So schreibt Plinius (nat. hist. 19,2) über den von Amasis verschenkten Leinenpanzer, dass dieser aus Strängen bestanden, die wiederum aus einer sehr hohen Anzahl feiner Einzelfäden gefertigt worden waren. Die von ihm genannte Zahl 365 ist mit den Tagen im Jahr identisch und vielleicht allegorisch gemeint. Eine solche Bauweise hätte die Wertigkeit eines geknüpften Panzers deutlich erhöht. Auch der Leinenpanzer, den Alexander der Große getragen haben soll, wird als zweischichtig beschrieben. Im Falle vernähten oder verklebten Leinens hätte dies wohl kaum Schutzwirkung geboten. Im Falle geknüpften Leinens kann dies jedoch, abhängig von der dicke der Einzelfäden, eine Gesamtstärke der Rüstung von über einem Zentimeter bedeuten. Weiterhin bietet der Vorgang des Knüpfens die Möglichkeit antiken 3D Webens. Dabei können mehrere übereinanderliegende Kettfäden miteinander verbunden werden. Das Ergebnis ist nicht nur ein robusterer Grundstoff. Es besteht auch die Möglichkeit, zwei oder mehr Reihen von Pteryges in einem Stück zu fertigen.

 

 

Die Gegenüberstellung verschiedener Konstruktionsmethoden zeigt, wie uneindeutig die Quellenlage bezüglich des antiken griechischen Leinenpanzers ist. Ballistische Versuche, welche die Schutzwirkung der verschiedenen Optionen zeigen könnten, stehen noch aus. Der bisherige Umgang mit Versuchspanzern lässt jedoch alle Konstruktionsmöglichkeiten denkbar erscheinen. Die Tatsache, dass auch die Nutzung mehrerer Methoden an einem Panzer durchaus denkbar ist, macht dabei die Entscheidung für eine Rekonstruktion umso schwerer. Ein Materialversuch zeigte, dass sich für einen mehrteiligen Panzeraufbau am ehesten folgende Kombination anbietet: Front- und Rückenplatten aus verleimtem Leinen, verbunden mit vernähtem und im Idealfall versteppten oder mit Schuppen besetzten Leinen für die Flanken, geknüpftes Leinen für die Pteryges und eng verstepptes oder verleimtes Leinen für die Epomides.

 

Versuchsstück mit mehreren Bauweisen: einer Panzerplatten aus verleimtem Leinen mit vernähte Rand oben links, einem versteppten weicheren Element oben rechts und geknüpften Pteryges unten.

 

Anmerkungen:

 

1: Granger Taylor, H. 2012: Fragments of Linen from Masada, Israel – the Remnants of Pteryges? – and Related Finds in Weft- and Warp-twining including several Slings. In: M. Nosch (Hrsg.), Wearing the Cloak. Dressing the Soldier in Roman Times. Ancient Textiles Series 10. Oxford 2012.

 

T. K.